Wenn der Froschkönig an der Tür klopft – über die Bedeutung von Märchen in der ambulanten Betreuung

von | Nov. 21, 2025

Es gibt Momente in der ambulanten Seniorenbetreuung, in denen die Zeit für einen Augenblick stillzustehen scheint. Wenn eine Betreuungskraft mit einer Kundin am Küchentisch sitzt, während draußen der Regen leise ans Fenster klopft, und ein Märchen aufschlägt, entsteht oft eine unsichtbare Verbindung. Etwas Zartes, Warmes, kaum Greifbares – wie ein seidenfeiner Faden aus Gold, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt.

Märchen: Türen zu Erinnerungen

Für viele ältere Menschen sind Märchen ein vertrautes Echo ihrer Kindheit. Sie erinnern an Abende bei den Großeltern, an denen der Großvater vorlas. An Wintertage voller Geborgenheit oder an das Staunen über das Gute, das am Ende doch siegt.

In der ambulanten Betreuung können Märchen deshalb zu einem Schlüssel werden – einem Schlüssel, der verschlossene Türen der Biografie sanft öffnet:
Plötzlich erzählen Kundinnen und Kunden von früher. Vom Lieblingsbuch in der Schule. Vom ersten Theaterstück. Von den eigenen Kindern, denen sie mit müder Stimme eine Geschichte erzählten, während sie selbst kaum wach bleiben konnten.

Diese kleinen rückblickenden Erzählungen sind mehr als nostalgische Momente. Sie sind biografische Schätze, die Identität stärken, Würde bewahren und Gesprächsanlässe schaffen — besonders bei Menschen, die selten über sich selbst sprechen oder sich durch Krankheit und Alter zunehmend zurückziehen.

Das Märchenhafte im Alltag

Märchen sind mehr als Fantasiegeschichten. In ihnen spiegelt sich das ganze Leben – nur in symbolischer Form.
Hexen können für Enttäuschungen stehen oder für Gefahr, der dunkle Wald für Ängste, der mutige Held für die eigene Lebensleistung. In der ambulanten Betreuung entsteht dadurch ein besonderer Raum: Ein Raum, in dem Kunden nicht nur zuhören, sondern sich selbst im Spiegel der Geschichte wiederfinden können – als Königssohn, als Drachenkämpfer, als in Schlummer gefallene, wunderschöne Prinzessin.

Gerade in einem Lebensabschnitt, in dem vieles kleiner, leiser und langsamer wird, dürfen Gedanken in Märchen wieder weit werden. Das Herz darf noch einmal reisen, auch wenn der Körper es vielleicht nicht mehr kann. Zusammen mit Jorinde und Joringel, einer roten Zauberblume und im Kampf gegen die böse Hexe…

Märchen als Brücke: zwischen Generationen, zwischen Betreuenden und Betreuten

Wenn Betreuungskräfte Märchen vorlesen, lauschen oder darüber sprechen, entsteht eine Beziehung voller Wärme, Gefühl und Respekt.
Das gemeinsame Erleben eines Märchens schafft Augenhöhe — denn in der Fantasie sind wir alle gleich alt.
Die 85-jährige Kundin und die 32-jährige Betreuungskraft begegnen sich mitten auf einem Waldweg, auf dem Rotkäppchen zur Großmutter unterwegs ist. Und für einen Moment verschwindet das Gefühl von Betreuung, von Aufgabe, von Pflicht. Zurück bleibt ein gemeinsames Ausschauen nach der guten Fee oder dem Knusperhäuschen…

Der therapeutische Zauber der Metapher

Die Bilderwelt der Märchen wirkt oft dort, wo rationale Gespräche an ihre Grenzen stoßen. Die Hoffnung des „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ kann trösten. Das Wissen, dass Prüfungen zu bestehen sind, aber am Ende Licht wartet, kann Mut machen. Die Metapher vom „guten Ende“ kann Halt geben – gerade in Lebensphasen voller Verluste, Krankheit oder Einsamkeit.

Selbst Menschen mit Demenz reagieren häufig auf Märchen: auf Melodien der Sprache, wiederkehrende Motive, vertraute Phrasen. Manche erinnern sich plötzlich an Textzeilen, an Reime oder an den Klang ihrer Mutterstimme. Märchen erreichen oft Bereiche des emotionalen Gedächtnisses, die noch lange lebendig bleiben.

Wenn das Leben selbst zum Märchen wird

Am Ende lässt sich sagen: Märchen sind nicht nur Geschichten. Sie sind Lebensbegleiter. Sie erzählen von Mut und Angst, von Verlust und Wiederfinden, von Verwandlung und Neubeginn — Themen, die besonders im Alter eine große Rolle spielen. Und vielleicht liegt genau darin ihr Zauber in der ambulanten Seniorenbetreuung: Sie schenken Begegnungen mehr Tiefe. Sie öffnen Gesprächsräume, die sonst verschlossen blieben. Sie verbinden Vergangenheit und Gegenwart.

…und sie zeigen, dass in jedem Leben – auch im hohen Alter – eines nicht verloren geht: Der Glaube, dass Märchen wahr werden können und täglich unter uns sind. Man muss nur richtig hinschauen…

Das könnte Sie auch interessieren: